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Auf den Spuren des blinden Huhns
| Der PC als Alternative zum Vorlesungssaal:
Tele-Spiele für eine Verbesserung der Lehre. |
Sigrid Krause sitzt vor einem großen Computerbildschirm. Mit jedem Mausklick
öffnet sie neue Fenster: Mal erscheint eine bunte Grafik, es ertönt eine Stimme aus
dem Lautsprecher des Rechners oder es laufen ganze Videosequenzen ab."Man
kommt so durch", meint die angehende übersetzerin von der Humboldt-Universität.
So richtig überzeugt klingt das noch nicht. Sigrid Krause ist das neue Mitglied im
Team des Wirtschaftswissenschaftlichen Rechenzentrums (WRZ) der FU Berlin. Seit
Oktober 1994 arbeitet hier eine Handvoll Experten unter der Leitung von Nicolas
Apostolopoulos an der Entwicklung einer Multimedia-Anwendung im Bereich
Tele-Teaching. Bei dieser Art des "Fern-Unterrichts" sind Lehrer und Lernende
weder zeitlich noch räumlich aufeinander angewiesen. Im Mai wird Professor
Michael Kleinaltenkamp diese Fern-Lehreinheit zum ersten Mal in einem Seminar
praktisch einsetzen. Eine Premiere, bei der FU-Studenten dabeisein werden. Der
Dozent erkennt in der neuen Unterrichtsart ein "Substitut der alten Lehrform" und
plant den Einsatz künftig auch im BWL-Hauptstudium. Seminar und Software
behandeln ein Thema aus dem Marketing: die Diffusionstheorie. Dabei geht es um
die Verbreitung innovativer Produkte; das entsprechende Computerprogramm
funktioniert wie ein Rollenspiel. Der Student übernimmt die Funktion von "Mary",
einer fiktiven, digitalen Marketingexpertin. Marys Aufgabe ist es, die Marktchancen
von neuen, blindmachenden Hühnerkontaktlinsen zu bewerten. Hintergrund: Auf
riesigen, amerikanischen Geflügelfarmen ist der Verlust von Hühnern durch
Hackordnung und streßbedingten Kannibalismus besonders hoch. Blinde Hühner
aber sollen weit weniger aggressiv sein als andere. Per Video lernt man die
Hauptpersonen der Geschichte kennen und entwickelt dann eine Strategie unter
marktwirtschaftlichen Bedingungen: übermächtige Konkurrenten sind dabei ebenso
zu berücksichtigen wie uneinsichtige Hühnerbarone und empörte Tierschützer. Wie
im richtigen Leben eben. Hat man sich für ein regionales Testgebiet entschieden,
reichen objektive Argumente allein selten aus, zukünftige Kunden zu überzeugen. Die
Hühnerfarm-Lektion ist mit anderen Anwendungen verbunden - etwa mit einem
Internet-Zugang, über den man weltweit nach den neuesten Erkenntnissen zur
Diffusionstheorie suchen kann. Der größte Vorteil gegenüber der normalen
Uni-Veranstaltung jedoch ist: Jeder kann den individuellen Bedürfnissen
entsprechend teilnehmen. Es gibt keine vorgeschriebene Gliederung, kein Zeitlimit
pro Aufgabe, und jede Information ist beliebig oft abrufbar. Das komplette
Programm ist rund 610 Megabyte groß und paßt bequem auf eine
CD-ROM.DIALECT, so der Name der Tele-Truppe, ist ein Drittmittelprogramm,
das mit Bundesmitteln finanziert wird. Auftraggeber ist der Verein zur Förderung
eines Deutschen Forschungsnetzes (DFN).Es ist "das einzige Projekt an der Freien
Universität im Bereich Tele-Teaching", sagt Marcus Pattloch vom DFN-Verein. Der
Verein unterstützt kostengünstige Anschlüsse für Schulen, Bibliotheken und
wissenschaftliche Einrichtungen jeder Art. Theoretisch kann also jeder, der Zugang
zu diesem Netz bekommt, die Blinde-Huhn-Lektion mit seinem Computer vom
Berliner Server abrufen."Unser Ziel war, die Erstellung digitaler Lehreinheiten nutzbar
für die Studenten zu machen", betont WRZ-Mitarbeiter Albert Geukes. Im Klartext:
Der Computer ergänzt oder ersetzt die Vorlesung. Die Hühner-Lektion ist der
Prototyp. Doch das Beispiel des blinden Huhns weist den Weg. Bei den
Wirtschaftswissenschaftlern an der FU, so Kleinaltenkamp, gebe es bereits
überlegungen, die gesamte Rechnungswesenausbildung im Grundstudium als
Multimedia-Paket zu konzipieren. |
Mark Renner |
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Kontaktlinsen für Hühner
| Multimedia an den Universitäten:
Digitale Lektionen bei den FU-Wirtschaftswissenschaftlern. |
Jeder kennt das: Die Vorlesung ist gut besucht. Alle Plätze sind
belegt, und die Nachzügler haben auf den Gängen Platz genommen.
Die Luft ist schlecht und so knapp, daß manchem Studenten die
Augen zufallen. Davon völlig unbeeindruckt, jongliert der Professor
am Rednerpult in atemberaubender Geschwindigkeit mit Overhead-
Folien.
Eine alltägliche Situation am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften
der Freien Universität Berlin. Damit aber trotz überfüllter Vorlesungen
bei den Studenten etwas "hängen bleibt", werden hier neue Wege
beschritten. Ein Multimedia-Projekt, getauft "Dialect", soll den
Studenten helfen, die theoretischen Ansätze durch praktisches
Feedback zu erweitern. Die digitalen Lektionen, von Eingeweihten
auch "Digital Interactive Lectures in Higher Education" genannt,
werden unter der Federführung von Nicolas Apostolopoulos und Albert
Geukes entwickelt.
Da das Rechenzentrum des Fachbereichs seinen Bestand in den letzten
Jahren im Hinblick auf die Multimediatechnologie ausgebaut hat, steht
inzwischen die notwendige Rechnerleistung für das Projekt zur Verfügung.
Jetzt stellt sich die Frage, wie Multimedia-Anwendungen die Lehre
verbessern können und inwieweit sich andere Medien in Lerneinheiten
integrieren lassen. Apostolopoulos ist sicher, "daß
Visualisierungstechniken wie Foto, Video und Graphik beim Verständnis
von abstrakten Zusammenhängen sehr hilfreich sind".
Die digitalen Lektionen entsprechen etwa einem Rollenspiel auf dem
Computer: Grundlage ist ein Fallbeispiel aus der Wirtschaftswissenschaft,
das in den 60er jahren an der Harvard Business School erdacht wurde.
Der Student soll für eine Firma namens Optical Distortion Inc. ein
innovatives Produkt auf den Markt bringen: Kontaktlinsen für
Hühner. So blödsinnig sich das Beispiel auch anhören mag, es ist
authentisch und beinhaltet alle Probleme, die der Student nach dem
Abschluß meistern muß.
Eine digitalisierte Videosequenz führt den Lernenden als
Marketingberater in das Unternehmen ein - so soll ein persönlicher
Bezug hergestellt werden. Nach dieser visuellen Einführung findet
er sich in seinem Büro wieder: einer Benutzeroberfläche mit allen
zur Lösung der Aufgabe notwendigen Utensilien wie Statistikberechnung,
Marktanalysen und Kommunikationswerkzeuge. Hierhin kann immer wieder
zurückgekehrt werden, genauso wie Audio-/Videosequenzen beliebig
oft widerholbar sind. Hilfestellung leisten zusätzlich
Videoeinspielungen, in denen andere Personen ihre Meinung zu dem
Produkt äußern: eine Tierschützerin, ein Züchter oder am Ende der
Lektion Professoren des Fachbereichs in einer auf Video
aufgezeichneten und digitalisierten Diskussion. Die Ergebnisse der
Arbeit werden dann abgespeichert und online zum betreuenden
Professor verschickt, der sie auswertet und umgehend zurücksendet.
Soweit die Theorie.
In der Praxis waren immense Probleme zu bewältigen, denn die fertige
Software soll auf jedem handelsüblichen und multimediatauglichen
PC laufen, nicht nur auf High-End-Computern. "Wir haben unsere
Ansprüche an die Qualität der optischen Darstellung, zum Beispiel
der Videosequenzen, sehr hoch geschraubt, weil kein Student auf
einen winzigen Bildausschnitt starrt, der nach fünf Minuten
Kopfschmerzen verursacht", sagt Projektleiter Apostolopoulos.
"Die hohe Qualität brachte uns aber wiederum enorme Probleme mit
dem Speicherplatz." Er ist froh, diese Hürden gemeistert zu haben.
Auch die ersten Tests hat das Programm schon hinter sich. über
Internet wird es dennoch zunächst nicht zugänglich sein, da der
Umfang dank Video- und Audiosequenzen immer noch enorm ist.
Vorstellbar wäre, daß die Professoren die digitalen Lektionen als
CD-ROM, begleitend zu ihren Vorlesungen, aushändigen - jedenfalls
an die Studenten, die auch das nötige technische Equipment zu
Hause haben.
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Alexander Königs |
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